Cover
Titel
Sur les routes des Alpes. Religieux, marchands et animaux dans la Suisse occidentale (XIIe –XVe siècles)


Herausgeber
Morenzoni, Franco
Reihe
Culture et Société médiévales (36)
Erschienen
Turnhout 2019: Brepols Publishers
von
Hans-Jörg Gilomen

Der gewichtige Band ist als Ehrung des Genfer Mediävisten Franco Morenzoni zu seiner Emeritierung erschienen. Er enthält 19 seiner Aufsätze aus den Jahren 1992 bis 2016, darunter auch zwei bisher ungedruckte Tagungsbeiträge. Das grosse editorische Werk des Geehrten von Texten des Alexander Essebiensis, Guilelmus de Alvernia, Odo von Châteauroux und Thomas de Chobham konnte natürlich nicht einbezogen werden. Die Herausgeber haben ausschliesslich Aufsätze aufgenommen, welche die savoyischen Gebiete der heutigen Schweiz im 13. bis 15. Jahrhundert betreffen, mit der Absicht, damit weitere Forschungen über die Westschweiz anzuregen.

Vier thematische Teile werden präsentiert. Der erste gilt unter dem Titel Curés et prédicateurs dem in Morenzonis Gesamtwerk bedeutendsten Schwerpunkt der Predigt und damit verbunden der Seelsorge, deren zunehmende Bedeutung sich in den untersuchten und minutiös verglichenen Synodalstatuten der drei Westschweizer Bistümer Genf, Lausanne und Sion zeigt. Massnahmen richteten sich gegen Verstösse gegen die kirchliche Moral, vor allem durch klandestine Ehen, Missachtung der Inzestregeln, Ehebruch und Konkubinat. Auswirkungen der Evangelisation zielten auf den religiösen Alltag der Gläubigen wie auch auf die Gestaltung des Gottesdienstes. Der Streit um die Begräbnisrechte zwischen Mendikanten und Pfarrkirchen hat auch in Genf Wellen geworfen. Die Mendikanten erlangten hier nach der Mitte des 14. Jahrhunderts fast ein Monopol der Fastenpredigt, das bis zur Reformation Geltung behauptete. Der Stadtrat bemühte sich auch mit finanziellen Anreizen, angesehene auswärtige Mendikanten zur Fastenpredigt nach Genf einzuladen. Die Predigt zur Quest wurde hingegen kontrovers wahrgenommen und seit Beginn des 15. Jahrhunderts zunehmend zurückgedrängt. Unter den Wanderpredigern, die in Genf tätig waren, steht Vincent Ferrer zwar im Vordergrund, aber auch Battista von Mantua und Raphael von Cordona werden vorgestellt. Die Interessen und den geistigen Horizont eines Dorfpfarrers kann Morenzoni in dessen Randnotizen zur eigenhändigen Abschrift der Legenda aurea fassen. Täuscht der Eindruck, dass auch Bemerkungen zu den Juden besondere Aufmerksamkeit des Pfarrers gefunden haben?

Der zweite Teil steht unter dem Titel Échanges et milieux naturels. Aufgrund von Abrechnungen werden Reisen einfacher Leute 1365 von Sion nach Mailand, 1473/74 vom Hospiz des Grossen St. Bernhard nach Bourg-en-Bresse, Mailand, Genf und Basel in allen Einzelheiten (Transportmittel, Reisegeschwindigkeit, Kosten – täglich jeweils etwa das Vierfache des Tageslohns eines Handwerkers!) rekonstruiert. Man wird angesichts einer grossen Fülle älterer und neuerer Untersuchungen etwas zögern Morenzoni beizupflichten, dass die Preisgeschichte des Mittelalters ein bisher nur wenig erforschtes Feld sei. Dass Preisunterschiede auch zwischen benachbarten Märkten es erfordern, eher lokal begrenzt weiterzuforschen, trifft indessen sicher zu. Wilhelm Abels lange dominante Sicht, die auf der Aggregation von Preisen auf sehr unterschiedlichen Märkten beruhte, wird schon lange sehr skeptisch beurteilt. Morenzoni wertet die Getreidepreise aus, welche die Kastlane des Grafen von Savoyen bei Verkäufen im Wallis erzielt haben. In den spärlichen Angaben zur Zeit vor der Pest zeigen sich ansteigende Preise mit eigentlichen Teuerungen 1277, 1282 bis 1284, 1291, 1316 bis 1317 (zur Zeit der berühmten gesamteuropäischen Hungersnot, die aber nicht erwähnt wird) meist aufgrund klimatisch bedingter schlechter Ernten. Von 1344 bis 1348 verzeichnen die Quellen erneut sehr hohe Preise verbunden mit einer ansteigenden Mortalität. Dann folgte ein scharfer Preissturz, welchen Morenzoni auf schrumpfende Nachfrage wegen des Bevölkerungseinbruchs durch die Pest zurückführt. Die Preise bleiben dann trotz einzelnen Teuerungen tendenziell tief bis ins erste Viertel des 15. Jahrhunderts. 1438 leitet eine starke Preissteigerung eine Periode mit höherem Preisniveau ein. Die Löhne der Arbeiter sind in der Periode von 1350 bis 1420 angestiegen. Angesichts weiterer Faktoren warnt Morenzoni indessen davor, daraus direkt auf eine Verbesserung ihrer Lebenshaltung zu schliessen. Einiges ist zu erfahren zum Fang von Jagdvögeln, vor allem Falken, daneben Sperbern und Habichten, und zum Handel mit ihnen. Sie sind häufig in Zolltarifen genannt. Die Zollrechnungen von Bard erlauben sogar eine Quantifizierung für die Zeit von 1293 bis 1400. Habichte machen immerhin einen Drittel aus. Das gräfliche Privileg des Raubvogelfangs wurde strikt durchgesetzt. Die Freiburger Notariatsregister wertet Morenzoni als Quelle zum Pferdehandel 1356 bis 1478 aus. Die meisten Verkäufer waren Einwohner von Freiburg und erscheinen nur einmal, eigentliche Pferdehändler sind rar. Unter den Käufern sind neben etwa einem Drittel Freiburger Auswärtige aus der Waadt, aus Genf, Bern, Basel, Solothurn, Baden, Neuenburg, einzelne sogar aus Strassburg (von dort der einzige explizit als Pferdehändler bezeichnete), Köln und Bézier.

Der dritte Teil betrifft Les routes alpines du commerce européen. Durch das Wallis erläuft der Verkehr über die Alpenpässe des Simplons und des Grossen St. Bernhards. Die Rechnungen der Zollstationen von Saint-Maurice und von Villeneuve-Chillon sind zentrale Quellen für die vier Studien dieses Teils. In der Universitas der Kaufleute von Mailand sieht Morenzoni geradezu die «Erfinder» der Handelsstrasse über den Simplon, die seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle erlangte. Verträge mit dem Bischof von Sion und dem Grafen von Savoyen, der zu Beginn des 14. Jahrhundert fast alle Rechte am Zoll von Saint-Maurice erwarb, sicherten die Finanzierung der Infrastruktur und legten Einzelheiten der Durchreise und des Warentransports durch einheimische Fuhrleute fest. Dem Zoll von Saint-Maurice hat Morenzoni eine detailreiche und zahlengesättigte Studie gewidmet. Hier passierten in den Jahren 1281 bis 1450 fast 300’000 Ballen, vor allem Tuche (Barchent) aus der Lombardei und aus Venezien und in der Gegenrichtung Wolle aus dem Burgund und in viel geringerer Menge auch aus England für das Tuchgewerbe der Lombardei, dazu auch Wolltuche für den Mailänder Markt. Dominierend im Wolltransit waren die bekannten Mailänder Handelsfamilien. Insgesamt werden mehr als 500 verschiedene Kaufleute in den Zolllisten genannt. Bedeutend war der Pferdehandel mit etwa 15’500 verzollten, für den Verkauf bestimmten Tieren. Etwa 2’000 Tonnen unterschiedlicher Metallwaren, vor allem aus Mailand und der Lombardei, passierten Saint-Maurice. Morenzoni zeichnet die Konjunkturen der Verzollungen verschiedener Warengruppen nach. Schon vor der Mitte des 14. Jahrhunderts und vor allem im 15. Jahrhundert ging die Bedeutung der Walliser Route für den internationalen Handel, wobei nach Art der Waren zu differenzieren ist. Der Jahrmarkt von Sion, der trotz mehreren kriegsbedingten Einbrüchen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts regionale Ausstrahlung gewonnen hatte, ist schon nach 1330 bedeutungslos geworden. Saint-Maurice war vom Grafen privilegiert, neben dem Wochenmarkt sieben Mal im Jahr besondere Markttage abzuhalten; es sind wohl jeweils nur drei Termine wahrgenommen worden. Der Rückgang hat hier erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts eingesetzt und hat sich in den 1420er Jahren gravierend verschärft.

Im vierten Teil Politiques monétaires et prêteurs d’argent rekonstruiert Morenzoni, welche Münzen im Wallis vom Ende des 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts kursierten und welche Wechselkurse angewandt wurden. Der Münze von Saint-Maurice, welche die denarii mauricienses im Auftrag des Grafen schlug, und ihren Münzmeistern gilt eine kurze Notiz. Ausführlicher wird die Münzpolitik des Herzogs Amadeus VIII. um 1420 bis 1434 behandelt. Morenzoni folgt der von John Day reformulierten monetaristischen These zur sogenannten bullion famine und führt darauf auch das scharfe Vorgehen gegen klandestine Silberausfuhren und Silberhandel zurück. Die unterschiedliche Entwicklung der Gold- und Silberpreise führten auch hier zu den bekannten Problemen und entsprechenden Regelungen für die Münzmeister und den Geldwechsel. Das Bemühen zielte darauf, den Wert des Silbergeldes hoch zu halten, um nicht zur Abwertung der Goldmünzen gezwungen zu sein. Vor allem die minutiös ausgewertete Quelle des Registers des Jean de Fontana, Einnehmer der herzoglichen Abgaben, erlaubt es, den Umfang der Affinage in Genf und der Exporte genau zu verfolgen. Drei Studien betreffen den Lombardkredit. Die Geschäfte der Casana von Sembrancher können dank einem 1347 erstellten Inventar detailliert ermittelt werden. Kredite gegen Pfänder waren selten; vorwiegend wurden sie durch Bürgschaft Dritter abgesichert. Andere Geschäfte (Kauf auf dem Halm, Lieferungskauf usw.) sind äusserst rar. 725 Schuldanerkennungen belaufen sich auf insgesamt 2'045 Pfund, im Mittel demnach weniger als 3 Pfund (2,82), bei einer Streuung von 6 Denaren bis zu 101 Pfund, wobei die Zahl der 427 kleinen Darlehen bis zu 30 Schilling fast 59 Prozent ausmachen. Die vertraglichen Zahlungstermine lassen keinen Zusammenhang mit dem landwirtschaftlichen Kalender erkennen. Sehr häufig hielten die Schuldner die Rückzahlungstermine ohnehin nicht ein. Morenzoni ediert das 1376 aufgezeichnete Inventar des mobilen Nachlasses des lombardischen, im Detailhandel tätigen Kaufmanns Bacinodus Tracho, den er als Person durch viele zusammengetragene Quellenstellen fassen kann, der aber gemäss dem Inventar wohl eher als Krämer zu bezeichnen wäre. Mitten in einem allgemeinen, aber sehr detailreichen Überblick über die Leihbanken des gesamten Gebietes behandelt Morenzoni zwei sehr interessante Geschäftspapiere. Das erste enthält die Bilanz der Bank von Villeneuve-Chillon der Jahre 1343–1345. Das Kapital beträgt 3’666 Pfund, der Ertrag daraus in den 21 Berichtsmonaten 888 Pfund, also auf Jahre gerechnet rund 14 Prozent. Das zweite ist ein Rechnungsfragment der Bank von Conthey von 1343, das Einblicke in Buchhaltungsformen ermöglicht.

Insgesamt zeugen die hier nochmals edierten Studien von der unermüdlichen und alle Einzelheiten beachtenden archivalischen Forschungen Morenzonis.

Zitierweise:
Gilomen, Hans-Jörg: Rezension zu: Morenzoni, Franco: Sur les routes des Alpes. Religieux, marchands et animaux dans la Suisse occidentale (XIIe –XVe siècles), Turnhout 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (2), 2020, S. 310-313. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00063>.